Zwanzig Jahre lang hatte die Nato Afghanistan bombardiert, besetzt und ein Marionettenregime aufrechterhalten. Helena Zohdi sprach mit Shafi Sediqi von Afghan Refugees Movement über die Situation vor Ort sowie die Umstände unter denen afghanische Geflüchtete in Deutschland leben
Helena Zohdi: Im August 2021 zogen die letzten Nato Soldaten aus Afghanistan ab und die Taliban übernahmen die Macht über das gesamte Land. Du bist selbst 2013 aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Wie sieht die Situation von afghanischen Geflüchteten in Deutschland derzeit aus?
Shafi Sediqi: Die Situation von afghanischen Geflüchteten in Deutschland ist nach wie vor schlecht. Viele afghanische Geflüchtete haben immer noch kein Asyl bekommen. Verwandte von mir warten seit sieben Jahren in Ungewissheit und Angst, dass sie abgeschoben werden.
Hast du ein konkretes Beispiel?
Ein Beispiel, das kein Einzelfall ist: Mein Onkel, seine Frau und vier Kinder leben seit sieben Jahren in einer Flüchtlingsunterkunft in einem Wald in Ostdeutschland. Ihr Asylantrag wurde immer noch nicht anerkannt, er wurde sogar einmal abgelehnt, da das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) ihnen mitteilte, dass sie in Afghanistan ja sicher sei. Sie haben Einspruch erhoben, aber bis jetzt immer noch keinen Asylbescheid erhalten. Seit sieben Jahren sind sie isoliert in der Flüchtlingsunterkunft im Wald.
Wie erleben dein Onkel und seine Familie diese Situation?
Es ist psychischer Terror.
Dieser Onkel hat Krieg in Afghanistan durchlebt und ist psychisch und körperlich verletzt. Aber trotzdem wird dieser Schmerz vergrößert durch rassistische Behörden hierzulande, die ihn und seine Familie weiter durchquälen, indem sie ihnen die Gewissheit verweigern, nicht abgeschoben zu werden.
Wie erklärst du dir diese Politik der deutschen Regierung?
Durch solchen psychischen Terror will der deutsche Staat Geflüchtete abschrecken.
Wie ist die Situation, nachdem man einen Aufenthaltstitel erhält?
Das hängt sehr davon ab, welchen Aufenthaltstitel man bekommt. Mehr und mehr Afghan:innen bekommen bloß ein Abschiebeverbot, aber keinen subsidiären Schutz oder Flüchtlingsstatus.
Abschiebeverbot klingt ja erstmal nicht schlecht, oder?
Der Schein trügt. Da das Abschiebeverbot vorerst nur ein Jahr gilt, können Afghan:innen auch wieder nach Afghanistan abgeschoben werden, wenn sich die Bundesregierung entscheidet, dass Afghanistan wieder angeblich »sicher« sei.
Was bedeutet das für die Betroffenen?
Mit einem Abschiebeverbot kann man nicht Familienangehörige nach Deutschland bringen. Mit einem Flüchtlingsstatus – was die wenigsten bekommen – kann man zwar die Eltern und minderjährige Geschwister nach einem sehr aufwendigen Prozess nach Deutschland holen. Aber: die Geschwister, die jedoch schon achtzehn sind, dürfen nicht nach Deutschland geholt werden. Für einen Cousin von mir, dessen Vater von den Taliban getötet wurde, ist es deswegen nicht möglich, seine verwitwete Mutter, die unter prekärsten Bedingungen in Afghanistan lebt, nach Deutschland zu holen, weil das bedeuten würde, dass seine 18- und 19-jährige Schwestern alleine in Afghanistan bleiben müssten. Das ist nicht möglich. Diese Gesetzeslage ist skandalös.
Durch solchen psychischen Terror will der deutsche Staat Geflüchtete abschrecken.
Hast du Unterschiede im Umgang mit Geflüchteten seitens der deutschen Behörden bemerkt seit dem russischen Angriff auf die Ukraine?
Es gibt klare doppelte Standards im Umgang deutscher Behörden mit weißen ukrainischen Geflüchteten und nicht-weißen Geflüchteten aus Asien oder Afrika. Es ist schockierend wie schnell und effizient die Ausländerbehörde doch arbeiten kann, wenn sie es will. Und wenn es um weiße Geflüchtete geht.
Würdest du also sagen, dass das Vorgehen der deutschen Behörden rassistisch ist?
Ja, sehr deutlich. Im Frühling wurden in Deutschland afghanische und syrische Geflüchtete aus Flüchtlingsheimen, in denen sie seit Jahren lebten entfernt, getrennt und in andere Unterkünfte verstreut, um Platz für weiße ukrainische Geflüchtete zu machen. Das ist rassistisch. Afghan:innen warten Monate, bis sie einen Termin bei der Ausländerbehörde bekommen. Ihre Aufenthalte laufen ab und sie verlieren ihre Arbeitsstelle, weil sie keine Arbeitserlaubnis mehr haben. Weiße ukrainische Geflüchtete können zur Ausländerbehörde ohne Termin gehen. Sie bekommen sofort eine Arbeitserlaubnis und Aufenthaltstitel. Sie müssen kein Asylverfahren durch machen. Diese Sachen müssen für alle Geflüchteten gelten, egal woher sie kommen.
Wie ist die Situation in Geflüchtetenunterkünften?
Das Leben in Flüchtlingsunterkünften macht einen hoffnungslos. Man wird wie ein Tier behandelt dort, wie im Gefängnis. Viele Menschen werden zusammen in kleine Zimmer eingepfercht. Die Räume sind eng und man muss sich Küche, Toiletten etc. teilen.
In deutschen Medien hört man öfters, dass es Konflikte unter Geflüchteten in Geflüchtetenunterkünften gibt. Was sagt zu dazu?
Natürlich kommt es da zu Konflikten, wenn man mit vier Personen, die man gar nicht kennt, ein kleines Zimmer teilt. Wenn man Jahre lang so lebt, der Asylantrag nicht anerkannt wird und man sich Sorgen um die Familie in der Heimat macht. In deutschen Medien und von deutschen Behörden werden Konflikte aber so dargestellt, dass Geflüchtete gewalttätig seien oder aggressiv aufgrund ihrer Kultur und sich nicht untereinander verstehen könnten. Das Problem ist aber strukturell. Würden uns normale Wohnungen zur Verfügung gestellt, gäbe es unter uns auch keine Auseinandersetzungen.
Du hast selbst diese Zustände erlebt. Wie erinnerst du dich an diese Zeit?
Ich habe vier Jahre in einer Flüchtlingsunterkunft gelebt im Wald. Dort gab es keine Privatsphäre. Psychisch geht es einem grauenhaft dort. Man macht sich ständig Sorgen, ob man Asyl bekommt oder nicht, ob man abgeschoben wird. Man bekommt nicht automatisch einen Sprachkurs oder Arbeitserlaubnis. Man muss für diese Sachen kämpfen.
Gab es denn zumindestens Übersetzungen von wichtigen Dokumenten?
Nein. Selbst wenn man einen Termin bei der Ausländerbehörde hat, werden keine Sachen in eine nichtdeutsche Sprache übersetzt. Auch wenn man ganz neu in Deutschland ist und noch kein Deutsch versteht. Das einzige Dokument, was sie in Dari und andere Sprachen übersetzen und an jede Wand hängen in der Ausländerbehörde, informiert über die Möglichkeit einer »Freiwilligen Rückkehr« nach Afghanistan und, dass man dafür auch noch Geld erhält. Die Situation von Geflüchteten wird so unerträglich gemacht, damit Geflüchtete dazu gedrängt werden, »freiwillig« in Krieg und Elend zurückzukehren.
Die Nato bestraft Afghan:innen auch wenn ihre Truppen nicht mehr physisch vor Ort sind.
Nach 20 Jahren Besatzung zogen im August 2021 die Nato-Truppen aus Afghanistan ab. Das Regime von Aschraf Ghani implodierte und Mitglieder seiner Regierung zogen mit Millionen US-Dollar in ihre Villen ins Ausland, während die Taliban die Macht über das gesamt Land übernahmen. Seit Jahresbeginn sind 13.000 afghanische Babies aufgrund der Hungersnot gestorben. Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht. Kannst du uns mehr über die Lage vor Ort berichten?
Die Nato bestraft Afghan:innen auch wenn ihre Truppen nicht mehr physisch vor Ort sind. Sie tut dies nämlich durch westliche Sanktionen. Die wirtschaftliche Situation vor Ort ist extrem schlecht. Afghanistan hat in den letzten 20 Jahren durch ausländische Hilfsorganisation gelebt. Nachdem das pro-westliche Marionettenregime von Aschraf Ghani in kürzester Zeit 2021 zusammengebrochen ist, brach auch die Wirtschaft zusammen.
Welche Rolle spielen westliche Sanktionen im Alltag?
Durch die westlichen Sanktionen hat sich die Situation für die Menschen in Afghanistan weiter verschlechtert. Der Mangel an Nahrungsmitteln und Brennstoffen, Preissteigerungen machen den Menschen wirklich zu schaffen. Westliche Sanktionen treffen die Ärmsten am schlimmsten. In Afghanistan als einem der ärmsten Länder der Welt ist das fast die ganze Bevölkerung. Dass westliche Sanktionen mörderisch sind, zeigt die Situation in Afghanistan jetzt genauso wie die Situation in Irak in den 1990ern, wo die USA eine halbe Millionen irakische Kinder durch Sanktionen getötet hat und dies auch noch rechtfertigte. In Afghanistan gibt es jetzt viele Familien, die nicht ihre Kinder ernähren können. Deswegen sterben noch mehr Kinder. Sie werden zur Kinderarbeit gezwungen oder zu flüchten.
Wie sieht das für Deine Familie vor Ort aus?
Ein Cousin von mir, der bloß achtzehn Jahre alt war, wurde letzten Monat auf der iranischen Seite der Iran-Afghanistan Grenze ermordet. Er war bloß ein Kind. Sein Name war Tayeb. Er wollte nach Europa flüchten, da die Situation in Afghanistan keine Hoffnung bietet. Ich mache auch den Westen und damit die EU und Deutschland dafür verantwortlich. Hätte die Nato nicht ein Afghanistan in Trümmern herbeigeführt – das überhaupt erst die Taliban gestärkt hat – und nun die afghanische Zivilbevölkerung mit Sanktion bestraft, würden Menschen nicht dazu gezwungen sein zu flüchten. Dann würde mein Cousin vielleicht noch leben.
Entlang der der afghanisch-iranischen und iranisch-türkischen Grenze sind unzählige Gräber von Afghan:innen, die versucht haben ein besseres Leben zu finden. Ihre Namen und ihre Geschichten sind mit ihnen beerdigt, nicht mal eine Nummer in einer Statistik.
Dass Personen zum Teil ihre Kinder verkaufen müssen wird in deutschen Medien nicht aufgrund von ökonomischen Gründen verstanden, also, dass Personen aus Armut ums überleben kämpfen und deswegen zu so drastischen Schritten gezwungen werden Kinder zu verkaufen. In deutschen Medien wird dieses Leid von Afghan:innen als ein »barbarisches kulturelles Phänomen« präsentiert.
Durch die westlichen Sanktionen hat sich die Situation für die Menschen in Afghanistan weiter verschlechtert.
Wer trägt in deinen Augen die Schuld dafür?
Die Nato Staaten sind an dieser Lage schuld. Es sind Regierungen im Westen, wie in Deutschland von SPD und Grünen angeführt, die Jahrzehnte so getan haben, als ob sie sich um afghanische Frauen kümmern würden, aber die die Sanktionen gegen Afghanistan – die die Ärmsten am schlimmsten treffen – jetzt wenig stört.
US-Präsident Joe Biden hat im Frühjahr erklärt, dass er sieben Milliarden Dollar der Afghanischen Zentralbank nicht zurückgeben werde, sondern für US-amerikanische 9/11-Hinterbliebene und NGOs ausgeben werde. Was bedeutet diese Entscheidung für die Menschen in Afghanistan, und ist sie angesichts des neuen Taliban-Regimes gerechtfertigt?
Diese Entscheidung der USA ist eine Form des Neokolonialismus. Sie klauen etwas, was nicht ihnen gehört. Das Geld gehört nicht den Taliban, sondern der afghanischen Zentralbank. Nur dadurch kann die Wirtschaft ansatzweise funktionieren. Es ist heuchlerisch, dass die USA, die Krieg und Elend von Vietnam bis Afghanistan herbeigeführt haben, nun die moralische Oberhand beanspruchen.
Sie haben Afghanistan 20 Jahre lang besetzt, Afghan:innen gefoltert sowie links und rechts getötet. Die sieben Milliarden Dollar müssen sofort an die afghanische Zentralbank zurückgezahlt werden.
Die USA sind das Land, dass Schwangerschaftsabbrüche illegalisiert, die Schwarze Bevölkerung in Gefängnisse sperrt, Muslime in Guantanamo Bay foltert und tötet und den Genozid an der indigenen Bevölkerung leugnet. Sie möchten jetzt moralische Überlegenheit behaupten? Das ist lächerlich. Angesichts der Unterdrückung von Frauenrechten in den USA, könnte man sagen, dass Afghan:innen nun die moralische Aufgabe hätten, die USA zu befreien.
Einige selbsternannten Expert:innen hierzulande behaupten, dass die Taliban in Afghanistan 2021 so schnell die Macht übernehmen konnten, weil Afghan:innen nicht bereit für Demokratie gewesen seien. Wie siehst du das?
Das ist eine rassistische Aussage. Erstens waren weder das Marionettenregime von Hamid Karzai noch von Aschraf Ghani demokratisch. Aschraf Ghani, so sagt man, war Präsident von Kabul, nicht von Afghanistan. Das Regime war zutiefst korrupt und hat seine eigene Bevölkerung terrorisiert. Hohe politische Figuren bereicherten sich selbst und haben Millionen von US-Dollar selbst eingesteckt. Ghani und andere wohnen jetzt in Villen in den USA, England oder Dubai. Ihnen ging und geht es gut während die Massen von Afghan:innen verhungerten.
Darüber hinaus muss man fragen, was diese westliche Demokratie ist, die die Nato nach Afghanistan gebracht hat? Waren es die Folterlager in Bagram? Die Entführungen nach Guantanamo? Die Bombardierungen von Dörfern in Helmand? Die monatlichen Abschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan? Die Pushbacks im Mittelmeer?
Nein, diese mörderische westliche Pseudodemokratie ist etwas, was nicht erstrebenswert ist.
Wieso konnten die Taliban so schnell an die Macht kommen 2021?
Durch den Krieg der Nato selbst. Der Krieg der NATO und der USA in Afghanistan hat die Taliban überhaupt erst gestärkt. Ohne die US- und NATO-Besatzung wären die Taliban nie so stark geworden. Indem die NATO Dörfer bombardiert hat – öfters durch Drohnen – und unzählige Zivilist:innen getötet hat, wurden viele Menschen erst radikalisiert und haben sich dem einzig vorhandenen Widerstand gegen die Besatzung zugewandt: Den Taliban. Natürlich kann man sich wünschen, dass es eine starke sozialistische Kraft im Widerstand gegeben hätte, dass ist aber nicht der Fall.
Ohne die US- und NATO-Besatzung wären die Taliban nie so stark geworden.
Weshalb gibt es keine nennenswerten linke Kräfte in Afghanistan?
Es gibt eben deswegen keine nennenswerten linke Kräfte in Afghanistan, weil die afghanischen Sozialisten der PDPA (People’s Democratic Party of Afghanistan, auf Deutsch: Demokratische Volkspartei Afghanistan) in den 1970ern und 1980ern für eine lange Zeit den Sozialismus zu einer monströsen Gestalt verwandelt haben, die Terror und Fremdbesatzung durch die Sowjetunion bedeutete. Einige stalinistische, kleinbürgerliche PDPA Kader mögen sich vielleicht noch nostalgisch an die PDPA Herrschaft erinnern. Für die absolute Mehrheit der bäuerlichen und arbeitenden afghanischen Bevölkerung bedeutete die PDPA Herrschaft von 1978 bis 1992 zusammen mit der Sowjetbesatzung von 1979 bis 1989 Krieg, Vertreibung und Elend. Dass Menschen sich den Taliban aufgrund des Nichtvorhandenseins von anderen politischen Alternativen angeschlossen haben, um gegen die mörderische US-Besatzung zu kämpfen, ist also wenig verwunderlich.
Welche Rolle spielte das Marionettenregime der westlichen Besatzungsmächte beim Erstarken der Taliban?
Die Beteiligung des Marionettenregimes zuerst unter Hamid Karzai und dann unter Aschraf Ghani an den NATO Bombardierungen der eigenen Bevölkerung und absolute Korruptheit der Warlords, die mit dem Westen zusammenarbeiten, haben die Bevölkerung in die Arme der Taliban getrieben.
Für die absolute Mehrheit der bäuerlichen und arbeitenden afghanischen Bevölkerung bedeutete die PDPA Herrschaft von 1978 bis 1992 zusammen mit der Sowjetbesatzung von 1979 bis 1989: Krieg, Vertreibung und Elend.
Im Juli dieses Jahres wurde ein Bericht veröffentlicht, dass britische Soldaten 2010 und 2011 über 50 afghanische Zivilist:innen ermordet haben. Wir werden wahrscheinlich nie wissen, wie viele Afghan:innen die Nato-Besatzer wirklich getötet haben. Was ist das Vermächtnis, das die Nato-Besatzung hinterlässt?
Das volle Ausmaß der Kriegsverbrechen der Nato-Truppen wird wahrscheinlich nie ganz bekannt sein. Die USA und ihre Verbündeten sind spezialisiert darin, Kriegsverbrechen zu vertuschen und verstecken. Wenn sie ans Licht kommen, werden sie geleugnet. So haben letztes Jahr der Vorsitzende Richter am BGH und BGH-Richter des Bundesgerichtshofs die Benennung des Massakers von Kundus als Massaker, wo der Oberst der deutschen Bundeswehr Georg Klein die Ermordung per Knopfdruck von bis zu 140 afghanischen Zivilist:innen befahl, als »Taliban-Propaganda« diffamiert. Klein, der für das Massaker verantwortlich ist, wurde sogar zum General befördert danach.
Wie sieht es mit den Kriegsverbrechen der Taliban aus?
Die Taliban haben selbst unzählige Kriegsverbrechen begangen und zivile Opfer in Kauf genommen. Ihre Opfer werden auch höchstwahrscheinlich nie Gerechtigkeit bekommen, da die Befehlshaber der Terrorangriffe nun an der Macht sitzen. 2019 kam ein Onkel von mir durch einen Bombenanschlag der Taliban ums Leben. Es wird für ihn wie für so viele andere aber nie ein Verfahren geben. Jetzt erst recht nicht.
Die gegenwärtig andauernden Angriffe des terroristischen ISKP (Islamic State Khorasan Province) auf Zivilist:innen – besonders Schiit:innen (überwiegend der Hazara-Minderheit angehörig) und andere Minderheiten wie Hindus und Sikhs – sind nun eine Herausforderung für die Macht der Taliban, genauso wie sie es auch für die vorherigen Regierung waren. ISKP sind für Anschläge auf Hochzeiten, Schulen, Krankenhäusern, Universitäten und Moscheen in ganz Afghanistan verantwortlich und halten die Bevölkerung nach über 40 Jahren Krieg mit ihrem Terror in Angst.
In Teilen der deutschen Linken gibt es nach wie vor eine Verklärung der Sowjet-Besatzung Afghanistans. Es wird auf Fotos von afghanischen Frauen im Minirock verwiesen, welche deren vermeintliche »Freiheit« beweisen sollen. Was hat es mit dieser Nostalgie auf sich?
Die PDPA Herrschaft war brutal und hat das Land in den Ruin getragen sowie die Besatzung durch die Sowjetunion herbeigeführt. Die Bilder, die dann einige stalinistische Linken von afghanischen Frauen im Minirock in den 1970ern teilen, zeigen, dass sie keine Ahnung davon haben, wie die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung lebte. Solche Bilder sind nämlich von einer winzigen bürgerlichen kleinbürgerlichen Elite, die in Kabul in Bequemlichkeit lebte. Dem Rest des Landes bzw. sogar der armen Bevölkerung Kabuls ging es nicht so. Meine Mutter lebte in den 1970ern im Dorf unter ganz anderen Bedingungen. Die durch die PDPA herbeigeführte Sowjetbesatzung vertrieb sie und Millionen andere. Zwei Millionen Afghan:innen sind im Rahmen der Besatzung durch die Sowjetunion getötet worden.
Die PDPA Herrschaft und die Sowjetbesatzung als Sozialismus zu verkaufen fügt nicht nur dem Sozialismus großen Schaden, zu sondern verleugnet das Leid, dass Afghan:innen durchgemacht haben. Sozialist:innen, wenn sie es ernst meinen mit der Selbstbefreiung der ausgebeuteten Massen, müssen sich von solchen verkehrten und vereinfachten Nostalgien befreien.
Siehst du in diesem Kontext Parallelen zur Nato Propaganda, was Frauenbefreiung angeht?
Ja, Frauenbefreiung war auch ein Thema, dass die USA benutzten, um Afghanistan zu besetzen. Um afghanische Frauen zu »befreien« indem sie den Schleier abwerfen und Nagellack tragen könnten. Das ist orientalistische Propaganda. Frauen müssen selbst entscheiden, wie sie sich kleiden. Der absoluten Mehrheit von afghanischen Frauen haben weder sowjetische noch US-amerikanische Bombardierungen auf ihre Dörfer und Städte geholfen. Ganz im Gegenteil.
Die USA und ihre Verbündeten sind spezialisiert darin Kriegsverbrechen zu vertuschen und verstecken.
Wie siehst du die jetzige Politik der Taliban, besonders bzgl. Frauenrechten?
Als die Taliban 2021 an die Macht kamen, gab es Hoffnungen, dass sie anders seien als vor 20 Jahren. Dass sie aus ihren Fehlern gelernt hätten. Bis heute haben aber aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte viele Menschen Angst vor ihnen.
Die jetzige Politik der Taliban ist nämlich sehr widersprüchlich und zeigt, dass es in ihren Reihen sowohl erzkonservative Kräfte gibt, die Frauen komplett aus dem öffentlichen Leben verbannen wollen und »reformistischere« Kräfte, die Frauen den Zugang zu Universitäten und Schulen nicht verwehren wollen. In ihren Reihen gibt es unterschiedliche Positionen. Um nicht den allerletzten Schimmer der Glaubwürdigkeit zu verlieren, muss Frauen im ganzen Land sofort der Zugang zu Schulen, Arbeit und Universitäten gewährleistet werden. Bis jetzt ist das nicht in allen Teilen des Landes der Fall sondern ist je nach Region unterschiedlich.
Wie sieht es mit demokratischen Grundrechten wie Meinungsfreiheit oder Pressefreiheit aus?
Es gibt viele Bericht, wie die Taliban Pressefreiheit eingeschränkt haben und sogar Journalist:innen verhaftet und körperlich verletzt haben. Weiblichen Journalistinnen werden aufgefordert ihr Gesicht zu bedecken. Sowas muss natürlich sofort enden. In Afghanistan müssen demokratische Grundrechte gewährleistet werden. Es muss Prozesse geben für faire und freie Wahlen. Journalist:innen müssen ihre Arbeit frei ausüben können. Damit das Land funktionieren kann und Menschen nicht verhungern, muss die Wirtschaft auf zwei Beinen stehen, was mit westlichen Sanktionen nicht möglich ist.
Die USA geben öfters an, dass sie sich stark für Schulbildung, besonders von afghanischen Mädchen, eingesetzt haben. Wie siehst du das?
Da Afghanistan, wie alle anderen Gesellschaften im Kapitalismus, eine Klassengesellschaft ist, war der Zugang zu Bildung und Arbeit auch unter dem vorherigen pro-westlichen Regime nicht gleichmäßig verteilt. So wurden von US-Entwicklungshilfe finanzierte Schulen, besonders für Mädchen, nicht nachhaltig aufgebaut und existierten nach kurzer Zeit nicht mehr. Dies waren »Geisterschulen«. Trotzdem schmückten sich die USA mit Statistiken, die die Anzahl von US-amerikanisch finanzierten Schulen sowie die Anzahl von weiblichen Schülerinnen drastisch übertrieben. Dabei waren die Unterschiede zwischen Stadt und Land auch extrem.
Der absoluten Mehrheit von afghanischen Frauen haben weder sowjetische noch US-amerikanische Bombardierungen auf ihre Dörfer und Städte geholfen. Ganz im Gegenteil.
Was sind deine Forderungen, was jetzt in Deutschland getan werden muss, um die Menschen in Afghanistan und afghanischen Geflüchtete zu unterstützen?
Da westliche Länder – inklusive Deutschland – am Leiden in Afghanistan beteiligt sind, finde ich wichtig, dass Menschen in westlichen Ländern das Handeln ihrer Regierungen anprangern. Praktisch bedeutet das, zu fordern, dass alle Sanktionen beendet werden müssen, denn sie treffen die Ärmsten am schlimmsten und afghanische Kinder verhungern jeden Tag deswegen. Die von den USA eingefrorenen sieben Milliarden Dollar der afghanischen Zentralbank müssen sofort zurückgezahlt werden. Es müssen sofort sichere Fluchtwege geschaffen werden und alle Asylanträge müssen in Deutschland anerkannt werden. Dazu muss Familienzusammenführung auch erwachsene Geschwister und andere Familienangehörige umfassen. Geflüchteten müssen Wohnungen zur Verfügung gestellt werden, damit sie aus den schlimmen Situationen in Flüchtlingsunterkünften rauskommen. Dafür gibt es genügend leerstehende Wohnungen in ganz Deutschland.
Vielen Dank für das Interview, Shafi.
Shafi Sediqi ist bei der Gruppe Afghan Refugees Movement aktiv und wohnt in Hessen.
Foto: Guilhem Vellut
Schlagwörter: Afghanistan, Flucht, Imperialismus, NATO