Aufruhr in Arabien, Proteste in Europa. Ist 2011 das Jahr der Revolutionen? Anlässlich der Neuauflage seines Buches »Die revolutionären Ideen von Karl Marx« sprach marx21.de mit Autor Alex Callinicos
marx21.de: Dein Buch ist im VSA-Verlag neu aufgelegt worden. Warum ist es vor dem Hintergrund der Revolutionen in der arabischen Welt und der Bewegungen in Spanien und Griechenland wichtig, wieder Marx zu lesen?
Alex Callinicos: Das ist aus mehreren Gründen wichtig. Ich will nur zwei hervorheben. Der erste ist, dass wir in einer Welt leben, die mehr denn je beherrscht, geformt und in wachsendem Maße vom Kapitalismus zerstört wird. Und wer den Kapitalismus verstehen will, muss mit Marx anfangen. Er bietet das systematischste kritische Verständnis des Kapitalismus und seiner konfliktreichen und dynamischen Entwicklung.
Der zweite Grund ist, dass Marx sich dem Kapitalismus natürlich nicht von einer rein akademischen Perspektive nähert, obwohl er ein enorm gelehrter Theoretiker war. Er nähert sich dem Kapitalismus, wie Engels bei seinem Begräbnis sagte, vor allem einmal als Revolutionär. Und er versucht, sein Verständnis des Kapitalismus fruchtbar zu machen, um zu zeigen, wie der Kampf der Arbeiterklasse als kollektives politisches Subjekt entstehen und wie er die Grundlage für eine ganz andere Welt legen kann.
Was wir in Spanien und Griechenland und in der ganzen arabischen Welt sehen, ist, wie die Menschen nach Wegen suchen, ihre Gesellschaften zu verändern und mit Problemen fertig zu werden, die in letzter Konsequenz auf den Kapitalismus zurückzuführen sind.
Marx ist kein Gott, bei dem man alle Wahrheit finden kann, aber er ist sehr wichtig, um Leuten beim Umgang mit ihrer Lage zu helfen.
Es gibt in der Linken viel Kritik an der Abhängigkeit von Karl Marx von Leuten, die finden, dass seine Ideen nicht auf unsere Zeit übertragbar sind. Würdest du sagen, dass seine Ideen heute noch von Bedeutung sind?
Ich finde, Marx ist ein sehr aktueller Denker. Seine Schriften sind in vielerlei Hinsicht heute besser anwendbar als zu der Zeit, als er sie verfasste. Als er das Kommunistische Manifest schrieb, gab es nur kleine Inseln des industriellen Kapitalismus in Nordwesteuropa und an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Heute herrscht der Kapitalismus überall, wie wir zum Beispiel an der Transformation in China sehen können.
Marx sah voraus, dass dieses System die Welt erobern und sie umformen würde. Was wir heute sehen, ist die Blüte von Entwicklungen, die er vor langer Zeit ausmachte. Von daher ist Marx kein überholter Denker, sondern einer, der uns heute eine Menge zu sagen hat.
Vor kurzem hast du auf einer Podiumsdiskussion auf dem MARX IS MUSS-Kongress in Berlin gesprochen und bist auf die Frage eingegangen, ob die Idee des Kommunismus heute noch relevant sei. Für alle, die da nicht dabei sein konnten: Ist die kommunistische Idee für uns noch von Bedeutung oder nicht?
Nun, das hängt natürlich davon ab, was man mit Kommunismus meint. In der Vorstellung vieler Menschen ist sie gleichbedeutend mit den Regimen in Osteuropa, in Deutschland insbesondere mit dem in der DDR, und der Sowjetunion. Aber diese Regime stellten eine Karikatur marxistischer Ideen dar. Für Marx war die Vorstellung der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse absolut zentral, also von Menschen, die sich selbst befreien, Veränderung von unten bewirken. In den stalinistischen Regimen in Osteuropa und der Sowjetunion war die Macht dahingegen systematisch an der Spitze der Gesellschaft konzentriert.
Die gegenwärtige Debatte über den Kommunismus ist aber eine ganz andere, denn in ihr geht es um die Frage, was eine wirkliche Alternative zum Kapitalismus sein könnte. Das ist eine nützliche Debatte, aber da sie von Philosophen wie Badiou und Žižek angefangen wurde, wird sie auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau geführt.
Was ich in Berlin unter anderem gesagt habe, ist, dass Marx einen ganz anderen Zugang wählte. Er hat bekanntermaßen Kommunismus als die wirkliche Bewegung zur Abschaffung des gegenwärtigen Zustands der Welt definiert. Mit anderen Worten, wer sehen will, wie der Kommunismus entstehen wird, muss sich die tatsächlichen Kämpfe gegen Ausbeutung und für Befreiung anschauen, die zur Zeit in der Welt ausgefochten werden.
Eine sozialistische Gesellschaft ist nicht einfach eine Vorstellung im Kopf eines Philosophen. Sie wird durch einen langen und schwierigen Prozess kollektiver Auseinandersetzungen erkämpft. Und ich glaube, dass dieses Verständnis von Kommunismus für die gegenwärtigen Diskussionen sehr wichtig ist.
Das Jahr 2011 ist bereits das Jahr der Revolutionen genannt worden. Teilst du diese Einschätzung, und wenn ja, welche Beziehung siehst du zwischen diesen Revolutionen und der Idee des Kommunismus?
Ja, wie ich schon in der Debatte in Berlin sagte, ist 2011 das Jahr der Revolutionen. Es gibt auf zwei Ebenen Beziehungen zwischen der Idee des Kommunismus und den arabischen Revolutionen.
Zum einen ist es wichtig zu verstehen, dass das Ziel dieser Revolutionen nicht einfach war, einen Diktator loszuwerden, sondern dass sie eine weltweite Reaktion darauf sind, wie der Neoliberalismus nicht nur diese, sondern viele andere Gesellschaften des globalen Südens umgegraben hat. Das geschieht nicht nur einfach dadurch, dass er eine sehr klare Trennung zwischen Arm und Reich einzieht, sondern auch dadurch, dass er Wohlstand und Privilegien in den Händen einer sehr kleinen Gruppe von Lakaien, Karrieristen und Verwandten des Diktators konzentriert. Daher sind in diesen Revolutionen politische und wirtschaftliche Anliegen sehr eng miteinander verbunden.{multithumb enable_thumbs=0}
Zum anderen sehen wir sowohl in Tunesien als auch in Ägypten die Rolle, die die Arbeiterklasse gespielt hat. Ein Generalstreik hat dem Regime von Ben Ali in Tunesien im Januar den Todesstoß verpasst. Als nächstes trug die Streikwelle in Ägypten maßgeblich dazu bei, dass das Weiße Haus und die ägyptischen Generäle sich gezwungen sahen, Mubarak abzusetzen. Die Streikwelle setzt sich weiter fort, und das ist von herausragender Bedeutung, denn Marx erkennt in der Arbeiterklasse den kollektiven Akteur, der den Umsturz des Kapitalismus und den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft durchsetzen kann.
Ich behaupte nicht, dass irgendwo im Nahen Osten zurzeit eine kommunistische Revolution stattfindet. Wir werden, glaube ich, gerade Zeuge sehr mächtiger Kämpfe um Demokratie, aber im Verlauf dieser Kämpfe werden wirtschaftliche und soziale Fragen wie die der Massenarmut immer deutlicher gestellt. Und indem das passiert, können wir das Potential dafür sehen, dass die Massen sich in Richtung der Überwindung des Kapitalismus und des Aufbaus einer anderen Form von Gesellschaft bewegen.
In Tunesien und Ägypten und vielleicht in anderen Ländern, die folgen werden, haben die Revolutionen versucht, die alten Strukturen zu zerbrechen, und das hat funktioniert. Aber wie kann verhindert werden, dass die alten Strukturen wie das Militär die Macht wieder an sich reißen?
Nun, in Ägypten und Tunesien ist klar, dass das Militär an der Macht ist. Das Militär hat Ben Ali zur Flucht gezwungen, und es ist in Ägypten an der Macht. Aber seine Position ist wacklig, denn es steht unter enormem Druck von der Straße, die alten Regime abzuwickeln.
Aber trotzdem ist das Militär an der Macht, und wir können zum Beispiel in Ägypten sehen, wie es sehr konkret die Unterdrückung fortsetzt. Wie haben es also in diesen beiden Ländern, in denen die Revolutionen am erfolgreichsten waren – in Bahrain ist die Revolution niedergeschlagen worden, und in Syrien findet ein sehr blutiger Kampf mit ungewissem Ausgang statt – mit revolutionären Prozessen zu tun.
Mit anderen Worten: eine Revolution ist nicht einfach ein einmaliger Sprung von einer früheren Gesellschaft zu einer neuen, sondern sie ist langwieriger Prozess von Auseinandersetzungen, in denen die Kräfte der Revolution sich entwickeln und stärker werden können, in der aber auch die Kräfte der Konterrevolution darum kämpfen, wieder in die Offensive zu kommen. Wir können das in Ägypten sehr deutlich sehen, wo sie versuchen, Spannungen zwischen Muslimen und Christen zu provozieren. Der Ausgang dieser Prozesse ist also alles andere als ausgemacht.
Was müssen die Menschen also tun?
Sie müssen weiter kämpfen. Sie stehen unter enormem materiellem Druck. Revolutionen sind nicht gerade gut für die Wirtschaft, und die Wirtschaft befand sich in diesen Ländern ohnehin schon in der Krise. Die ägyptische Regierung hat einen Kredit vom Internationalen Währungsfonds erhalten und auch einen von Saudi-Arabien.
Aber wir wissen, dass der IWF Geld nicht ohne Gegenleistung verleiht – vom IWF gibt es mit Sicherheit nichts umsonst, sondern seine Kredite sind an Bedingungen geknüpft, die im Kern daraus bestehen, dass mehr neoliberale Reformen eingeführt werden müssen. Das ist ziemlich genau die Strategie der Obama-Regierung: die Revolutionen zu benutzen, um eine breit angelegte neoliberale Neustrukturierung des Nahen Ostens zu erreichen.
Die Massen stehen also unter erheblichem materiellem Druck. Und deshalb müssen sie sich organisieren, um sich zu verteidigen und Reformen durchzusetzen. Das scheint auch zu passieren, indem sich unabhängige Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Gruppen formieren.
Als ich vor ein paar Wochen in Ägypten war, hörte ich, dass sich aus heiterem Himmel eine riesige Bewegung der Behinderten formiert hat, die selbstbewusst auftritt und zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ihre Forderungen stellt. Wir haben also eine ganze Welt von unterschiedlichen kämpfenden Bewegungen. Sie müssen noch stärker werden und sich besser organisieren, und im Verlaufe dieser Auseinandersetzung und der Konfrontationen mit den Kräften der Konterrevolution, die das hervorrufen wird, kann sich die Möglichkeit zu einem Prozess sehr viel tiefer gehender Radikalisierung eröffnen.
Es gibt viele Erfolge und viel Hoffnung in diesen Revolutionen, aber ebenso Probleme und Gefahren. Ist es möglich, als Sozialist auf solche Situationen vorbereitet zu sein?
Nun, bei der Debatte auf MARX IS MUSS habe ich Shakespeares Hamlet mit den Worten zitiert: »Bereit sein ist alles.« Aber was heißt es, auf eine Revolution vorbereitet zu sein? Solche Ereignisse kann niemand vorhersagen. Lenin sagte bekanntermaßen noch im Februar 1917 kurz vor der russischen Revolution, die ältere Generation werde die kommende Revolution wohl nicht mehr erleben.
Was Sozialisten machen müssen, ist im Kern, so starke revolutionäre Organisationen wie möglich aufzubauen, und zwar sowohl durch Entwicklung marxistischer Ideen, als auch dadurch, dass wir diese Ideen in eine Organisation übersetzen, die in den Kämpfen der Gegenwart verwurzelt ist. Und wir können die Früchte dieser Arbeit heute in Ägypten sehen.
Die Revolutionären Sozialisten in Ägypten sind eine Gruppe von Marxisten, die unter der alten Diktatur weitgehend im Untergrund entstand. Aber weil sie Teil der Bewegungen waren, die sich über die letzten zehn Jahre entwickelten – gegen den Krieg im Irak, in Solidarität mit den Palästinensern, für Demokratie und insbesondere der Arbeiterbewegung, die 2006 entstand oder besser wiedererstand – waren sie in der Lage, eine nicht unbedeutende Rolle in dem Kampf zu spielen, der sich auf dem Tahrir Platz konzentrierte.
Um noch einmal auf die revolutionären Ideen zurückzukommen: Was ist deiner Meinung nach Karl Marx´ wichtigste Idee?
Die wichtigste Idee von Karl Marx ist diese: Die Welt muss nicht so sein, wie sie ist, und ganz normale arbeitende Menschen haben die Kraft, die Welt für sich umzugestalten und sie zu lenken.
(Die Fragen stellte Stefanie Graf. Übersetzung: David Meienreis)
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