Islamistische Herrschaft und Bürgerkrieg: Ist aus dem Arabischen Frühling ein eisiger Winter geworden? Acht Thesen zu Perspektiven und Problemen der Revolution im Nahen Osten von Leandros Fischer
1. Die Aufstände in verschiedenen arabischen Ländern im Jahr 2011 waren erst der Beginn eines langjährigen Prozesses.
Die Aufstände, die die Diktatoren von Tunesien, Ägypten und Jemen aus ihren Palästen jagten, sind einzureihen in die Kategorie welthistorischer Verschiebungen, die vor allem Europa in den Jahren 1917, 1945 und 1989 erfassten. Diese Erhebungen haben tiefe soziale Ursachen, die nun nach Jahrzehnten der Unterdrückung großer Teile der Bevölkerung an die Oberfläche kommen. Die Arbeiterklasse, die städtischen Armen, aber auch die Frauen und religiöse oder ethnische Minderheiten wie die Kopten in Ägypten oder die Kurden in Syrien – sie alle haben durch die Aufstände ein neues Selbstbewusstsein erlangt, das nur schwer wieder eingeschränkt werden kann.
Insofern ist Resignation über den Ausgang dieses Prozesses fehl am Platz. Die Verwandlung des arabischen Frühlings in einen »islamischen Winter«, in dem radikale religiöse Kräfte die gesellschaftliche Hegemonie erobern und alle anderen Akteure ausschalten, ist keineswegs sicher.
Dort wo, wie in Tunesien oder Ägypten, islamistische Parteien an die Macht gekommen sind, sehen sie sich zunehmend mit sozialen Problemen und Widerstand konfrontiert.
Darüber hinaus beschränkt die weltweite Krise des Kapitalismus in drastischer Art und Weise die Möglichkeiten der verschiedenen Kapitalfraktionen – ob religiös oder säkular – nach den Aufständen die vorrevolutionäre bürgerliche Normalität wiederherzustellen. Schließlich sehnen sich die Massen nach Lösungen für Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit, hohe Lebensmittelpreise und Landknappheit. Sowohl die Islamisten als auch die Liberalen sind als etablierte politische Kräfte unfähig, Antworten auf diese Fragen zu liefern. Es zeichnet sich ein langer Prozess ab, in dem vor allem linke Kräfte die Chance haben, zu wachsen.
2. Die Aufstände verlaufen in jedem Land anders, doch die Ursachen sind überall die gleichen.
Ob in Ägypten, Bahrain oder Syrien: Die Unfähigkeit der aus den antikolonialen Befreiungskämpfen hervorgegangenen Eliten, ihre Versprechen von sozialer Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und Demokratie zu halten, ist der Grund für die Massenerhebungen. Dementsprechend haben sich bei den Aufständen drei Kernforderungen herauskristallisiert: Soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie. Hinzu kommt, besonders in Ländern mit prowestlichen Regimes, die Forderung nach einem Ende der Vasallentreue gegenüber den Westen.
Der Übergang des globalen Kapitalismus vom Keynesianismus zum Neoliberalismus seit den späten 1970er Jahren fand auch in der arabischen Welt statt. Hier kam es, entgegen neoliberaler Propaganda, zu einer Verschmelzung staatlicher und ökonomischer Macht: Die politischen Eliten wurden gut in den Weltmarkt integrierte wirtschaftliche Akteure, die ihre Länder zu Absatzmärkten und Billiglohnparadiesen für transnationale Konzerne machten. Die seit 2008 andauernde Krise des Kapitalismus führte zu einem dramatischen Anstieg der Lebensmittelpreise, der vor allem die Entwicklungsländer traf.
Kombiniert mit einer großen Perspektivlosigkeit besonders unter Jugendlichen, der Korruption und der alltäglichen Demütigung durch die Staatsmacht war diese Krise der letzte Tropfen, der zum Aufstand führte. Deutlich zeigte sich hier die Verbindung zu den Protesten gegen die Sparpolitik in Südeuropa und der weltweiten Occupy-Bewegung.
3. Die Rolle der oft totgesagten arabischen Arbeiterklasse ist entscheidend. Nur sie ist in der Lage, die Forderungen des Arabischen Frühlings dauerhaft zu erkämpfen.
Die Aufstände des Jahres 2011 wurden maßgeblich von jugendlichen Milieus getragen und durch die intensive Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter beschleunigt. Doch der Todesschuss für die Regimes von Mubarak und Ben Ali kam aus der kollektiven Selbstorganisation der Arbeiterinnen und Arbeiter in Form von Streiks und Betriebsbesetzungen. In Tunesien spielte der Gewerkschaftsdachverband die Hauptrolle beim Sturz Ben Alis. In Ägypten zwang ein Generalstreik von Millionen Beschäftigten das Militär, sich endlich von Mubarak zu lösen.
Bereits seit dem Jahr 2006 gab es in Ägypten, wo der revolutionäre Prozess am weitesten fortgeschritten ist, immer wieder erfolgreiche Streiks in strategisch wichtigen Bereichen wie der Textilindustrie, die das Selbstbewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter stärkten. Der Aufschwung der Klassenkämpfe gipfelte schließlich in der Bildung kämpferischer, unabhängiger Gewerkschaften – zum ersten Mal seit dem Sturz der Monarchie vor sechzig Jahren.
Da hingegen, wo die Selbstorganisation der Arbeiterklasse am schwächsten ist, sind auch die Demokratiebewegungen mit den größten Problemen konfrontiert. Auch in Libyen und Syrien hatten die Aufstände einen klaren sozialen Inhalt. Doch die Arbeiterklasse trat nicht als kollektiver Faktor in Erscheinung. In beiden Ländern konnten so die Herrschenden zunächst ihre Macht in den Hauptstädten stabilisieren, bevor sie durch militärische Gewalt die Volksbewegung in einen Befreiungskrieg zwangen. Diese Konstellation nutzte die NATO in Libyen, um in den Konflikt einzugreifen und prowestlichen Dissidenten zum Sieg zu verhelfen.
4. Die Arabellion stellt eine grundsätzliche Bedrohung für die imperiale Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten dar.
Die arabischen Revolutionen ereigneten sich in einem Gebiet, das aufgrund seines Ölreichtums sehr wichtig für das Funktionieren des globalen Kapitalismus ist. Um den Zugang zu diesem Rohstoff zu kontrollieren, haben westliche Staaten, allen voran die USA, in den letzten Jahrzehnten ein Allianzsystem geschaffen, das Israel, arme Länder mit prowestlichen Regimes wie Ägypten, Tunesien und Jordanien sowie die reichen Staaten des Golf-Kooperationsrats (GCC) umfasst.
Der Sturz Ben Alis und Mubaraks löste bei westlichen Regierungen und in den Golfstaaten Alarm aus. Um wieder die Initiative zu erobern, verfolgen sie seitdem eine Doppelstrategie. Wo es aussichtsreich erscheint, unterstützt der Westen die brutale Niederschlagung von Aufständen, wie zum Beispiel in Bahrain. Ansonsten gibt er sich als Verbündeter der Revolution und versucht so, verlässliche Bündnispartner innerhalb der Umwälzungsprozesse zu gewinnen.
Diese Vorgehensweise reicht von der verbalen Unterstützung für einen demokratischen Wandel über den Aufbau prowestlicher Kräfte in Ländern wie Ägypten und Tunesien bis hin zu militärischen Interventionen wie in Libyen. Was für die westlichen Regierungen zählt, ist das Fortbestehen der alten staatlichen Institutionen, der Erhalt und Aufbau von prowestlichen Allianzen, sowie die Fortsetzung neoliberaler Politik.
Im Fall Libyen zögerte der Westen einige Monate bis er den Sturz Gaddafis unterstützte. Dies entsprach exakt dem Zeitraum, den er benötigte, um verlässliche Verbündete vor Ort, zumeist aus dem alten Regime, zu finden. In Syrien wurde die westliche Unterstützung für den Aufstand bisher durch das Fehlen solcher verlässlicher Partner sowie durch die gefährlichen geopolitischen Konsequenzen eines raschen Sturzes des Regimes von Assad gehemmt.
Auch die aufstrebende Regionalmacht Türkei sowie die GCC-Staaten versuchen nachdrücklich, durch verbündete islamistische Parteien wie die ägyptischen oder syrischen Muslimbrüder ihren Einfluss auszudehnen. Deswegen geraten sie manchmal mit dem Westen in Konflikte.
5. Der Islamismus hat sich in den Aufständen nicht als finstere, unbesiegbare Macht, sondern als ein extrem widersprüchliches politisches Phänomen erwiesen.
Konträr zu vielen Einschätzungen, auch von Teilen der Linken, führten die arabischen Aufstände bis jetzt nicht zum Durchmarsch eines totalitären faschistoiden Islamismus. Im Gegenteil: Islamistische Parteien wie die Ennahda in Tunesien und die Muslimbrüder in Ägypten befinden sich trotz beeindruckender Wahlerfolge und eines raschen Vormarsches innerhalb des Staatsapparates in einer tiefen Krise.
Jahrelang bildeten diese Parteien die stärkste und am besten organisierte Opposition zum bestehenden System. Vor allem ihre Arbeit in Wohltätigkeitsprojekten sicherte ihnen die Unterstützung großer Teile der Arbeiterklasse, der Bauern und der städtischen Armen.
Die Führung dieser Parteien besteht jedoch aus einem aufstrebenden religiösen Bürgertum mit engen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen in die Golfstaaten. Aus diesem Grund unterstützen diese Parteien Privatisierungen und andere neoliberale Maßnahmen. Ihrer teils radikalen Rhetorik zum Trotz versuchen islamistische Parteien an der Regierung, sich als verlässliche Partner darzustellen, mit denen der Westen gute Geschäfte schließen kann.
Ein Großteil der Menschen, die bei der ägyptischen Präsidentschaftsstichwahl für den Muslimbruder Mohammed Mursi gegen den Kandidaten des alten Regimes Ahmed Schafik gestimmt hatten, widersetzte sich deshalb einige Monate später dessen autoritärer und neoliberaler Politik.
Die Islamisten müssen zwischen verschiedenen, potenziell stärkeren Kräften wie der Arbeiterklasse auf der einen und der mächtigen, dem alten Regime nahestehenden Armee auf der anderen Seite manövrieren.
Auch viele Anhänger konservativerer Strömungen wie der Salafisten sind zwischen ihrer religiösen Einstellung einerseits und ihrer Stellung als Arbeiter andererseits zerrissen. Schließlich stehen die konservativen Rollenbilder der Islamisten im eindeutigen Widerspruch zur wichtigen Rolle, die Frauen – auch religiöse – beim Sturz der alten Regimes spielten.
All diese Widersprüche innerhalb des Islamismus zeigen, dass dieser keinen monolithischen Block darstellt und große Teile seiner Anhängerschaft für eine linke emanzipatorische Politik gewonnen werden können.
6. Die Linke in der arabischen Welt ist zurzeit schwach. Aber ihr Comeback ist nicht unwahrscheinlich.
Linke Ideen und arabisch oder muslimisch geprägte Kultur sind kein Widerspruch – ganz im Gegenteil: Seit den 1920er Jahren spielten kommunistische Parteien eine führende Rolle bei allen sozialen Auseinandersetzungen in den arabischen Ländern. Kämpferische linke Traditionen leben auch heute im Bewusstsein der Massen weiter. Was die arabische Linke jedoch geschwächt hat, war der Glaube, dass ihre primäre Pflicht in der Schaffung von Klassenallianzen mit bürgerlichen Kräften bestehe, die sie als »progressiv« einstuften.
Die »progressiven Kräfte« wie die Baath-Partei in Syrien und dem Irak und das Regime von Nasser in Ägypten nutzten diese Selbstaufgabe der Linken aus, um deren Strukturen und Organisationen blutig zu zerschlagen. Später versetzte das Aufkommen islamistischer Bewegungen die traditionelle Linke derart in Panik, dass sie die autoritären Regimes als das »kleinere Übel« unterstützten.
Trotzdem sind die Chancen für ein linkes Comeback nicht zu unterschätzen. Bei der ersten Runde der ägyptischen Präsidentschaftswahl verfehlte der linke Kandidat Hamdin Sabbahi den Einzug in die Stichwahl nur knapp. In den Ballungsräumen Kairo und Alexandria erhielt er sogar mehr Stimmen als Mursi und Schafik. Gruppen wie die Revolutionären Sozialisten in Ägypten haben durch ihre Hartnäckigkeit eine kleine, aber aktivistische kritische Masse hinter sich bringen können. Die Erfahrung zeigt: Da, wo die Linke Regimes wie in Syrien unterstützt, verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. Anderseits kann sie dann wachsen und ihren Einfluss vergrößern, wenn sie die künstliche Trennung zwischen »Religiösen« und »Säkularen« aufbricht und demokratische Anliegen, Antiimperialismus, Klassenkampf, sowie die Verteidigung der Rechte von Frauen und Minderheiten in einem Programm zusammenbringt.
7. Die Arabellion zeigt deutlich: Nicht die arabischen Regierungen, sondern die die Arbeiterklasse der Region ist der wichtigste Verbündete der unterdrückten Palästinenser.
Der Kampf der Palästinenser für einen unabhängigen Staat kann nicht verstanden werden, wenn man ihn von den Auseinandersetzungen in der gesamten arabischen Region abstrahiert. Keine der relevanten politischen Kräfte in Israel ist bereit, sich mit den Palästinensern auf ein Abkommen einzulassen, das die Ausdehnung der Siedlungspolitik beenden würde. Israel wäre jedoch nicht in der Lage, diese koloniale Siedlungspolitik im Westjordanland und die Isolierung des Gazastreifens in der bisherigen Weise durchzuführen, hätte es nicht Rückendeckung von Ländern wie Ägypten und Jordanien. Für den Staat Israel stellen die arabischen Aufstände eine Gefahr dar. Durch den Sturz von Mubarak verlor das Land seinen wichtigsten arabischen Verbündeten.
Auf der anderen Seite bestärkt die herrschende Unsicherheit in der Region Israels Rolle als einzig wirklich zuverlässiger Partner des Westens im Nahen Osten. Doch der Wind des arabischen Frühlings hat auch Palästina erreicht. Den palästinensischen Autonomiegebieten wurde Ende November der Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen zuerkannt. Gleichzeitig musste Israel den letzten Krieg gegen die Bevölkerung des Gazastreifens auf Druck der USA abbrechen und ägyptische Waffenstillstandsbedingungen akzeptieren. Beide Ereignisse sind ein Beweis der veränderten politischen Lage in der Region.
Noch entscheidender ist, dass die Solidarität mit den unterdrückten Palästinensern Bestandteil der arabischen Proteste geworden ist. Das Verlangen nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit macht die arabischen Massen zu den wichtigsten Verbündeten der palästinensischen Bevölkerung.
8. Auch Deutschland verfolgt eigene Interessen im Nahen Osten. Die arabische Revolution steht ihnen im Wege. Das heißt: Widerstand gegen die Politik der Bundesregierung ist gleichzeitig Unterstützung für die Aufständischen der Arabellion.
Nicht nur die USA, Großbritannien oder Frankreich, sondern auch die Bundesrepublik verfügt über extensive Handelsbeziehungen in den Nahen Osten. Um die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands durchzusetzen, schreckt die Bundesregierung nicht vor Versuchen zurück, die arabischen Revolutionen zu stoppen oder für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.
Trotz ihrer Weigerung, am Libyenkrieg teilzunehmen, hat die Regierung Merkel keine Skrupel, Panzer an das undemokratischste Regime der Welt in Saudi Arabien zu verkaufen, auch nachdem dieses mit anderen GCC-Staaten in Bahrain einmarschiert ist, um den dortigen Aufstand blutig niederzuschlagen.
Gleichzeitig engagieren sich konservative deutsche Think-Tanks wie die Konrad-Adenauer-Stiftung oder die Stiftung Wissenschaft und Politik in Ländern wie Ägypten und Syrien beim Aufbau »zivilgesellschaftlicher Kräfte«, die sich der Fortsetzung jener neoliberalen Umstrukturierungen verpflichtet fühlen, die zur jetzigen Verelendung geführt haben. Die Lippenbekenntnisse der Bundesregierung zur Demokratie sind pure Heuchelei angesichts ihrer früheren Zusammenarbeit mit jedem verbrecherischen Regime der Region. Die beste Solidarität mit der arabischen Revolution ist also der Widerstand gegen die aggressive Machtpolitik der Bundesregierung, die nicht nur im arabischen Raum und in Südeuropa, sondern auch hierzulande durch eine Politik zum Ausdruck kommt, die Kosten der kapitalistischen Krise auf die Schwachen abzuwälzen.
Zur Person:
Leandros Fischer ist Politologe. Er schreibt gegenwärtig an der Universität Marburg eine Doktorarbeit zum Thema »DIE LINKE und der Nahostkonflikt«.
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